„Ich war eine Waffe“
2023 / Rochelle-Salz, Weinflasche, Gedicht. / W25 D10 H10 cm
Neue Technologien integrieren sich, sobald sie auftauchen, ganz natürlich in alte Gesellschaften und bilden neue soziale Systeme. Seit einigen Jahren befinden wir uns in der dritten KI-Welle, die mit der Verfügbarkeit hochleistungsfähiger KI-basierter Text- und Bildgeneratoren auch dieses Jahr (2023) einen weiteren Triumph feierte. Viele nutzen diese Dienste inzwischen ganz selbstverständlich auf ihren privaten PCs und Mobiltelefonen. Zwar gab auch vorher bereits KI-Systeme, diese wurden von der breiten Gesellschaft aber nicht als revolutionär wahrgenommen und niemand kennt sie heute. Auch Materialien und damit verbundene Technologien werden entwickelt, prosperieren, verschwinden wieder und geraten in Vergessenheit. Manchmal werden sie wiederentdeckt und entfalten in verändertem Kontext erneut Wirkung, ein scheinbar natürlicher Prozess.
Bei dem in der Arbeit im Zentrum stehenden Material handelt es sich um Kristalle einer speziellen Salzart (Seignettesalzoder Rocheller Salz). Diese Kristalle sind organischen Ursprungs und kommen in der Natur vor allem im Wein vor. 1920wurde entdeckt, dass sie ferro- und piezoelektrische Eigenschaften haben. Seitdem wurden sie nicht nur aktiv als piezoelektrische Elemente in Kopfhörern und Mikrofonen eingesetzt, sondern insbesondere in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs auch in der Waffentechnik, unter anderem für Unterwasser-Abhörgeräte (passives Sonar) der U-Boot-Abwehr. Von Deutschland aus gelangte die passive Sonartechnologie nach Japan, wo jedoch während des Zweiten Weltkrieges westliche alkoholische Getränke als Feindkultur abgelehnt wurden. Da aber große Mengen an Rochelle-Salz benötigt wurden, war die Weinproduktion unter dem Propagandaslogan "Die Traube ist eine wissenschaftliche Waffe" legitimiert. Weingüter in ganz Japan wurden vom japanischen Militär beauftragt, Weinstein für militärische Zwecke herzustellen. Entgegen den üblichen Zielen des Weinbaus musste dieser Wein nicht schmecken, sondern der Geschmack wurde zugunsten der effizienten Produktion von Kristallen vernachlässigt. So blieben nach dem Krieg große Mengen an schlechtem Wein zurück. Viele Weinkellereien mussten aufgeben und die spröden, wasserempfindlichen Kristalle, die nun durch die robusteren Piezokristalle ersetzt wurden, wurden zu einem Relikt ihrer Zeit.
⬆︎Photo by Alexandra Nikitina